Die Alchemie der Dinge oder die absurde Geschichte vom „Toten Pferd“! 

Es scheint ein übliches Procedere zu sein, das gang und gäbe ist und überall auf der Welt seine Anwendung findet. Mir war das nicht klar. In der langen Zeit, in der ich nicht denken und fühlen durfte. Und gerechnet habe ich damit schon gleich zweimal nicht. Aber die Hoffnung habe ich nie aufgegeben. Tief in mir drin. In meinen Träumen.  Als hätte meine Seele ihre Finger im Spiel gehabt, die ganze lange Zeit hindurch. Hebel in Bewegung gesetzt, Weichen gestellt, Begegnungen ermöglicht. Mit sanftem Ruck meinen Kopf in die richtigen Richtungen gedreht …

Auf einem scheinbaren Hügel thront das wohlhabende, weiße Gebäude. Viele Fenster erlauben einen Blick direkt in seine Seele und andersherum erlauben sie einen Blick direkt in das Herz der Stadt. Wenn man an einem Fenster steht und seine Augen leicht nach rechts dreht, soweit die eigene Beweglichkeit dies erlaubt, schmust sich ein Garten, fast parkähnlich, an diesen Hügel. Wenn man das weiße Haus verlässt, gelangt man nach wenigen Metern an ein ebenso großes, aber vermutlich etwas weniger wohlhabendes Haus, dem ein Garten zu Füssen liegt. Ein schmiedeeisernes Tor mit passendem Zaun umrahmt den parkähnlichen Garten, der eigentlich doch etwas zu klein geraten ist für das beachtliche Tor. Aber so ist es manchmal. Nicht immer passt alles auf den ersten Blick zusammen, was auf den zweiten Blick eine schlüssige Einheit bildet. Bunte Stühle besprenkeln das Grün des Rasens in lustiger Abwechslung, niedere Tische inmitten.  Wenn sich die Augen an das gleißende Sonnenlicht, das vom weiter unten liegenden Fluss reflektiert wird, gewöhnt haben, wird unter einem ausladenden Vordach geborgen liegend ein mächtiger Tresen sichtbar. Appetitliche Kleinigkeiten werden kühl und einladend in den Glasfächern des Tresens angeboten. Ungezwungenheit spendet hellen Schatten über den zu kleinen Grüppchen angeordneten Sitzgelegenheiten. Der Garten ist ein wenig abschüssig. Er erinnert auf den „achtzehnten“ Blick hin an das Colosseum in Rom. Aber dafür muss man sich schon das spazieren gehen der Phantasie in den eigenen Erinnerungen erlauben. Vom Tor aus führt ein gepflasterter Weg direkt am mächtigen Tresen vorbei in das Innere des Gebäudes. Über der zweiflügeligen Eingangstür prangt ein großes Schild und in nostalgischen Lettern erzählt es von der eigentlichen Geschichte dieses Hauses:

„Museum für Pharmazie“

Schön mittig ist das Schild über der Tür angebracht. Die Aufteilung der Räume erinnert mehr an ein Spital, als an ein Museum. Was wohl auch der Wahrheit am nächsten kommen mag. Eine Treppe führt zu einer Seite hinauf, verbunden durch einen Balkon und zur anderen Seite wieder herunter. Als würden die Treppen und der Balkon um ein lichtspendendes Atrium kreisen. Wie die Sonne um den Mond. Zumindest, bis die Sonne erwacht ist und begriffen hat, dass es genau andersherum sein muss, wenn sie hell aufleuchten und strahlen will. Unterhalb des Balkons ist eine breite satinierte Glastür und erlaubt, sobald sie sich öffnet, einen kurzen Blick in einen großen Saal. Dort nehmen wir an einem der milden Abende Platz. Haben reserviert, bereits im Voraus. Die Details dort sind schon speziell. Aber wen wundert das in einer solchen Umgebung?! Meine graue Stoffserviette mit Stickerei rollt sich vor meinen Augen in einem silbernen Ring zusammen und wartet auf „ihre“ Entfaltung zwischen zwei Schenkeln oder in einem Schoß. Rutscht bisweilen an glatten, schwarzen Langschäften herab. Ganz langsam, bis zum Absatz … Der Aperitif wird in Reagenzgläsern serviert. Das Getränk leuchtet in tiefem Dunkelrot. Wie Blut! Ist aber kein Blut! Erst als wir bereits sitzen, wird unser Tisch eingedeckt. Die Notwendigkeiten dafür herangerollt. Ein kleines Wägelchen, auf hochbeinigen kleinen schwarzen Rollen, die etwas quietschen, nähert  sich, geschoben von einer langbeinigen Schönheit mit Häubchen und Schürze. Das Gefährt ist weiß und der Lack an vielen Stellen bereits abgeplatzt. Das Besteck liegt in einer metallenen Nierenschale. Die Teller sind tatsächlich Teller, auch wenn ich durchaus, nach dem Auftritt des Bestecks, mit weiteren Überraschungen gerechnet hätte. Die Stimmung im Restaurant ist grandios. Alle Tische sind besetzt, im Hintergrund höre ich Serge Gainsbourg. Die Bedienungen tragen gekonnt Ordinat. Wenngleich mir strenges SCHWARZ deutlich lieber gewesen wäre. Die Herren glänzen im weißen Kittel mit Knopfleiste auf dem Rücken und gestärkten Falten vor dem Waschbrettbauch. Namensschildchen sind wie Orden an jede Brust geheftet. Die Damen tragen Kittel, mit Schleifen direkt über dem knackigen Allerwertesten und Häubchen auf den Frisuren, die so gar nicht in den Hauch der Zeit passen, die die restliche Aufmachung vorgaukelt. Das Teilen und gegenseitige Probieren der Mahlzeiten ist erwünscht und wird ausdrücklich auf der persönlich vorgetragenen Speisekarte erwähnt. Den krönenden Abschluss des Abendessens bildet die Rechnung. Oder besser gesagt, die Art der Präsentation des Papiers. Würde man doch eher eine Probe lauwarmen Natursektes in einem Gefäß dieser Art erwarten als die Rechnung eines vorzüglichen Abendessens. Am Ende des Mahls komme ich nicht umhin, mich nach einer Trophäe umzuschauen. Mein Blick fällt in meinen Schoss und die Wahl liegt auf der Hand. Respektive auf meinen strammen Schenkeln. Was soll ich sagen? Es bot sich an … Wir verlassen das Restaurant, wie wir es betreten haben. Nach wenigen Schritten liegt das Tor bereits hinter uns. Kopfsteinpflaster glänzt im Licht des Mondes und beleuchtet auch das satte Grün der Alleebäume, die scheinbar die Weite des Horizont begrenzen. Doch auch das ist nur eine Illusion, dahinter ergießt sich der Tejo alsbald ins offene Meer. Das Kopfsteinpflaster schmiegt sich an die Treppenstufen des wohlhabenden Gebäudes. Meine Blicke bleiben noch eine Weile an den Treppenstufen kleben, als würden sie sich nicht so gleich trauen, sich dem prachtvollen, strahlenden Gebäude zu zuwenden. Die elegante Freitreppe aus wenigen Stufen führt hinauf zur Tür. Beide Flügel dieser Tür sind weit geöffnet. In der Sonne leuchtet ein blank poliertes Messingschild, dessen Aufschrift aus der Ferne nicht zu entziffern ist. Ein roter Teppich legt sich lasziv im Sonnenschein über die Stufen und noch ein Stück weiter das  Kopfsteinpflaster entlang.

Meine Blicke huschen verstohlen in das Innere des prachtvollen Gebäudes. Die Eingangshalle ist nüchtern und zurückhaltend für portugiesische Verhältnisse. Für Unsereins ist atemberaubend das richtigere Wort. Rechterseits kniet ein niedriger Tisch mit Sitzgelegenheiten für Besucher und Linkerseits steht ein schwerer Eichenschreibtisch mit Stuhl und Concierge darauf sitzend. Wieder müssen sich die Augen erst an den Wechsel der Lichter gewöhnen. Allmählich werden die  Schatten und Umrisse zu Gegenständen. Eine geschwungene Marmortreppe führt in die oberen Stockwerke und im Kegel des einfallenden Lichtes steht ein runder Tisch mit einer enormen Vase darauf. Täglich werden die Blumen darin durch frische Kunstwerke ersetzt. Der Duft der Blüten weht durch den Raum. Lilien sind es an diesem Tag. Herrliche, zartrosa Lilien umgeben von frischem Grün und winzigen roten Sprenkeln. Kaum sichtbar befindet sich auf der linken Seite eine weitere Tür aus dunklem Holz. Die Vertäfelung ist im gleichen dunklen Holz gearbeitet. Sie bilden eine Einheit, verschmelzen miteinander auf fast schon lustvolle Weise. Hinter dieser Tür eröffnet sich eine andere und doch irgendwie harmonische Welt. Moderne Eleganz löst nun die gediegene Zurückhaltung des Eingangsbereiches ab.

Ein gradliniger Gang, der sich am Ende gabelt, breitet sich vor meinen Augen aus. Glänzendes Parkett erzeugt diesen fast erotischen Klang bei jedem Schritt. Die Absätze meiner Stiefel spielen mit dem Klang des Holzes. Weiße Wände stehen Spalier und beeindrucken mit riesigen Bildern, auf denen sich die Lust und Begierde unverhohlen zur Schau stellt. Provozierend, doch keineswegs anstößig oder gar abstoßend in ihrer Wirkung.

Wir werden nach rechts gebeten, ein gläserner Lift erwartet uns bereits und fährt, kaum dass wir ihn bestiegen haben, abwärts. Auch an den vorbeiziehenden Wänden des Schachts rauschen Bilder der nun bereits bekannten Couleur vorbei … Wir sind nicht allein in diesem Lift. Die Witterung schwarzen Leders ist bereits in meiner Nase … Die Tür öffnet sich nach einigen Stockwerken. Noch haben wir die Architektur des Gebäudes nicht realisiert. Während der Fahrt hinab fesselten die Bilder zu sehr unsere Blicke. Zu unseren Füßen liegt nun dichter, duftiger, weißer Teppichboden. Ich traue mich kaum, ihn mit meinen Schuhen zu betreten. Den Staub der Straße darauf zu verteilen. Meine nackten Fußsohlen sehnen sich jedoch bereits nach diesem Genuss … Jeder Schritt fühlt sich an, als würde ich auf Wolken gehen … Und irgendwie ist es ja auch so. Die sich nun öffnende Tür führt direkt in den siebten Himmel. Seine Hand streichelt verführerisch meinen Arsch. Fingerspitzen wollen mehr, werden fordernd,  ziehen sich galant zurück, warten ab, werden sich nehmen …später!  Jetzt …noch … nicht …

 

L 'incastonatore d'oro

Verlegen reiben sich die Grashalme den Schlaf aus den Augen. Räkeln sich im Sonnenschein und begrüßen jeden neuen Tag mit einem leisen Rauschen, das durch die zugigen Ritzen morscher Fenster zu hören ist. Hier und da wagen sich weitere Geräusche aus der Stille der vergangenen Nacht hervor. Ein Hahn, der auf dem Misthaufen seine Damen zu sich ruft, um Audienz zu halten … oder so … Kinderlachen vor Tau und Tag … meistens die schönste Zeit des beginnenden Tages. Diese Stille wurde selten durch laute Motorengeräusche verstört. Die Zivilisation zog von jeher an diesem Ort schweigend vorbei … und so verschlief … dieser Ort … die Veränderungen. Entzog sich dem Kreislauf des Lebens und drehte das Rad der Geschehnisse in der eigenen Geschwindigkeit und verlieh jedem Moment eine ganz eigene Farbe. Eine Farbe, die an sonnigen Tagen durchaus als hell und licht zu beschreiben gewesen wäre, wenn da nicht der leise Hauch von grauem Ruß über allem gelegen hätte. Er legt sich über die Dinge, die Gedanken und Gefühle der Menschen wie ein zarter Schleier. Zunächst. Wird dichter im Laufe der Jahre. Lässt Kinderlachen verstummen und freundliche Gedanken zu zähen Endlosschleifen werden.
Aber dies ist nichts Ungewöhnliches an jenem Ort. Er gleicht unzähligen Orten!

Die Menschen waren gewöhnt, an diesen Lauf der Dinge. Lebten ihre Leben …so, wie sie sie zu kennen glaubten und meinten, dass es richtig sei. Die Alten sagten, das sei schon immer so gewesen und daran wolle man doch auch nichts ändern. Man wisse schließlich nicht, ob es dann nicht vielleicht doch anders kommen würde, als man es sich ohnehin nicht vorstellen könne. Vor allem aber wolle man sich auch gar nichts anderes vorstellen. Eigentlich sei es doch irgendwie auch ganz gut so, wie es sei. Zumindest, wenn man nicht darüber nachdächte. Wäre ohnehin auch nur verschwendete Zeit. Und so verkroch sich eines der kleinen Mädchen in diesem Ort. Fand einen Platz, der sie beeindruckte durch sein Licht und seine Gerüche. Die eigentlich beängstigenden Geräusche der dortigen Tätigkeiten wurden zu ihren Beschützern und so richtete  sie sich ein, in ihrem Spiel aus Phantasie und Traum …Wahrheit und Dichtung, Elfengesang und den Klängen gemurmelter Zaubersprüche … eine kleine Stiege führt hinab. Diese Stiege ist einfach gearbeitet. Schnell musste es wohl gehen, damals.

Nach dem großen Unglück. Als es zu brennen begann … damals, kurz, nachdem die Bomben nicht mehr fielen. Kantige Hölzer, die sich erst im Laufe der Zeit zu Rundungen weichgeschliffen haben, von unzähligen Händen, die daran hinauf und hinab geglitten sind, bilden das Geländer. Eine schmale Öffnung zwischen groben, ungehobelten Holzdielen dient als Zugang in diese andere Welt. Vorbei an lauten Maschinen, die einem kleinen Mädchen wie Ungeheuer erscheinen könnten. Aber sie hatte sich längst schon, unbemerkt von den Übrigen, angefreundet. Tanzte immer wieder Hand in Hand mit ihnen … Legte sich rücklings auf den kleinen Wagen, der die riesigen Holzstämme durch das Sägegatter beförderte, wenn sie allein war in der Sägemühle des Großvaters. Die Motoren liefen von früh bis spät, an jedem Tag. Nur sonntags nicht. Die Sägeblätter des Gatters bewegten sich unaufhörlich, beständig darauf wartend, dass ein weiterer Holzstamm, von enormer Größe zerschnitten werden sollte. Immer wieder aber, ließ der Großvater die Maschinen allein, stellte sie nicht ab. Wenn das Lenchen nach ihm rief. Manchmal vergaß er dann, dass auch Karline in der Sägemühle spielte. Ging, wohin er gerufen wurde. Auch er vergaß in diesen Momenten, für eine Weile, seine kleine Enkelin. Auf diese Momente wartete sie. Dann war sie frei. Vergaß selbst, dass ihre Kindheit keine Zeit der Freude war. Dann gab das kleine Mädchen dem Gefährt einen sachten Schubs, der es in Bewegung versetze.  Ganz langsam legte sie sich auf den Wagen. Obenauf den Holzstamm, vom dem die erste Scheibe bereits abgeschnitten war. Nur, wenn die kratzige Borke nicht mehr vorhanden, einer sägerauen Oberfläche gewichen war, mochte sich das kleine Mädchen darauflegen. Wenn sie dort lag, sah sie die Sägeblätter in ihren schnellen, gleichmäßigen Bewegungen über ihrer Nasenspitze, hörte die Geräusche der scharfen Zähne, die sich durch die Stämme fraßen. Dieses Geräusch bohrte sich in ihre kleinen Ohren. Wie eine kleine Spirale und blieb dort, für den  Rest ihres Lebens.  Wurde zu einem Teil ihres Körpers. Jederzeit abrufbar, auch noch nach Jahren. Niemals schloss sie ihre kleinen Augen. Weder zu Beginn dieser Fahrt, noch währenddessen. War sich der Gefahren, die von ihnen ausgingen, nicht bewusst und erlitt nie, auch bei den waghalsigsten Abfahrten, einen Schaden. Ein Entkommen war nicht mehr möglich, lag man erst einmal auf diesem Wagen. Die gefräßigen Ungeheuer forderten Ihre „Mahlzeiten“, mehrmals am Tag. Diese Ungeheuer lebten vom Holz und schnitten es in Scheiben … so … wie andere, ordentliche Leute sich Brotscheiben aufschnitten und für eine anständige Abendmahlzeit richteten … Spänen fielen unaufhörlich hinab. Sammelten sich zu hohen, weichen Bergen, deren Staubkörner im durch die Ritzen fallenden Sonnenlicht tanzten und diese verborgene Welt in ein Elfenreich verwandelten. Doch hierher kam eigentlich niemand. Warum auch, so dachten die Leute. Sie stieg gern hier hinunter. Wagte sich mit den Jahren immer weiter und entdeckte weit hinten … diesen schmalen Gang und  hörte Wasser rauschen. Die beiden Geräusche vermischten sich. Wurden zu etwas, das sie nicht mit ihren Worten hätte beschreiben können. Aber in manchen Nächten kam es herauf. Schlich die gebohnerte Treppe auf verstohlenen Sohlen herauf und hockte sich auf die Kante ihres Bettes. Drang ein in ihre Träume.

Die Gatter wurden mit Strom betrieben, den vor langen Zeiten das Wasserrad geliefert hatte, das ein wichtiger Bestandteil der Sägemühle gewesen war. Es war außen, hinten links gegenüber des Komposthaufens zu finden. Als es noch in Betrieb war … Auf dem Komposthaufen wurden, jedes Jahr aufs Neue, Zucchini und Kürbisse gepflanzt. Im Sommer, kurz vor der Ernte, blühten sie in den leuchtendsten Farben, die man sich nur vorstellen kann. Schmetterlinge saßen dort gern in der Mittagszeit, an besonders heißen Tagen. Dort schien die Sonne am wärmsten, anders als auf der Mauer des Gerännes. Dort herrschte immer kühler Schatten und tiefer Frieden. Stellte man sich auf diese Mauer, konnte man am noch vorhandenen Zulauf des ehemaligen 
Wasserrades vorbei hinab in die Tiefe schauen, wohin, war von dieser Stelle aus allerdings nicht zu ergründen. In der Sägemühle gab es eine fast unsichtbare kleine Tür, die hinaus führte, direkt zum Geränne und zum Wasserrad. Wollte man dorthin, musste man am Schränkraum vorbei, einen schmalen Gang entlang, bis zu dem dunklen Winkel neben dem alten Schrank aus Holz, im dem die Werkzeuge und Geräte zum Schärfen der Sägeblätter aufbewahrt wurden. Neben dem ausrangierten Wäscheschrank stand eine alte Truhe mit Schwingdeckel. Groß und klobig war das Teil, Platz genug, um ein kleines Mädchen darin zu verstecken. Darin lagen Decken und Kissen. Sie rochen längst nach staubiger Vergangenheit. Oft schlüpfte sie in diese Truhe und schaute dem Großvater beim Schärfen zu. Über allem lag immer der Geruch von altem Öl und erkalteter Sägespäne. Manchmal saß sie mit dem Großvater auf dieser Mauer, ein Kissen unter dem Hintern, damit es nicht zu kalt würde. Fragte nach dem Wasserrad. Aber davon wollte der Großvater nichts erzählen. Dann verdüsterte sich sein Gesicht und er wurde stumm, unruhig und ging kurze Zeit später retour in seine Sägemühle, vor sich hin murmelnd … dass die Arbeit ihn rufen würde. An anderen Tagen, wenn Besucher in der Küche oder im Wohnzimmer der Großeltern zu Gast waren, sprachen sie über die Sägemühle zunächst, um dann in die Geschichten aus früheren Zeiten einzustimmen. Vor langer Zeit einmal, so erzählten sie sich, als das Wasser noch friedlich, tagein und tagaus das  Wasserrad betrieb, da wäre die Welt noch in Ordnung gewesen. In diesen Momenten kroch das kleine Mädchen unter den großen Tisch und belauschte die Gespräche. Niemand konnte sie sehen, denn es lag immer eine dunkle, schwere Decke über dem Tisch. Es sei besser gewesen und richtig, dass man danach das Wasserrad nicht mehr benützt hätte. Gespeist wurde dieser Zulauf von einer Quelle, weit oben im Wald. Ein kleiner gemauerter Graben führte unter dem Dorf hindurch und lieferte das notwendige Wasser. Auch hier war ein Gefälle, das  für den notwendigen Wasserdruck sorgte, erzeugt durch die beachtliche Geschwindigkeit aufgrund der Neigung. Es sei gut so, dass es nun Strom gäbe, der die Sägemühle betreiben würde. Das Rauschen des Wassers vom Zulauf hinab in die Tiefe jedoch, würde noch immer daran erinnern. Man wolle es aber doch nicht hören … und es würde ja auch nichts ändern. Mit der Zeit würde dann Gras über die Sache wachsen und endlich wieder Stille einkehren. Aber es kehrte keine Ruhe ein. Alles vererbt sich und streut Ruß in die Augen der Frauen, die waren und noch kommen würden. Ihre kleinen Ohren wurden grösser und grösser unter dem Tisch, verborgen vor den Augen der Gäste und den Augen des Großvaters, saugten auf, was an Gesprächsfetzen bis zu ihr hinunter drang. Weckten ihre Neugier, wie eine lästige Fliege auf der Nase einer gefräßigen, verlausten Katze während des Mittagsschlafes. Trieb sie instinktiv an auf der Jagd nach dem Ursprung des Geheimnisses. Wenn sie sich dann unbeobachtet fühlte, in der Sägemühle des Großvaters, stieg sie hinab in den Keller. Ging vorbei an ihrem Versteck aus weichen Späne. Beachtete die brennenden Kerzen nicht mehr, die sie dort in die weichen Spänen gesteckt hatte. Traute sich weiter zu gehen, mit klopfendem Herzen und klammen Fingern. Verließ den Sonnenschein und die tanzenden Staubkörner und betrat den dunklen, hinteren Teil des Kellers, entdeckte den Beginn des gemauerten Grabens und den schmalen Weg daran entlang, der gänzlich ins Dunkle führte. Ihre Neugier ließ sie diesem Weg unter dem Dorf folgen, bis zum oberen Ausgang, der nun verschlossen mit einem Gitter keinen Ausgang mehr in die Freiheit oder tiefer hinein in den Wald erlaubte. Aber einen Blick hindurch, in die helle Welt, ließen die Gitterstäbe zu. Dieser Blick weckte, was ohnehin in diesem kleinen Mädchen nicht zu bändigen gewesen wäre. Dieser Blick weckte ihre Kraft. Ihre Neugier und den Wunsch fliegen zu lernen und Drachen bezwingen können, wie eine stolze Pantherin.

An anderen Tagen wurde ihre Neugier zu einem zärtlichen, verschmusten Kätzchen und war mit nichts auf der Welt dazu zu bewegen, erneut den Weg zu der geheimen Quelle anzutreten. Dann rollte sie sich ein dort unten, machte es sich gemütlich und spielte mit den Kerzen im weichen Bett aus Spänen. Spielte mit dem Feuer und träumte sich im diffusen Licht des Kerzenscheins in eine andere Welt und schlief ein auf diesem weichen Bett aus Sägespäne. Schien fünfzig Jahre zu schlafen, auch wenn es nur ein Nachmittag war. Immer wieder träumte sie dort und verschlief so manche Stunde. Träume wiederholten sich und auch der eigenartige Traum aus den Geräuschen der Gatter und dem Rauschen des Wasserrades kehrte immer und immer wieder zurück, als würde dieser Spuk niemals enden wollen … bis einer dieser Träume sie weckt. Noch ist er ganz präsent in ihrer Seele. Sie sieht die Bilder und Gefährten des Traumes so deutlich vor sich, als wäre sie noch immer inmitten des Traums. Sie reibt sich den Schlaf aus den Augen und den Staub ihrer Träume aus den Kleidern. Erhebt sich zu ihrer vollen Größe und steigt mit noch etwas unsicheren Schritten die kleine Stiege hinauf … Nichts ist mehr so wie es war, als sie hinabgestiegen ist. Eine neue Welt breitete sich vor ihr aus. Im Gewand einer veränderten Zeit. Wie ein Hauch schimmert der Traum noch immer in ihr Bewusstsein. Klopft leise an und bittet mit einem leisen Raunen um Gehör. Das Raunen wird zu einem Dröhnen und Rauschen. Als würden die Gatter noch immer ihren Hunger an den großen Holzstämmen stillen und das Wasserrad die Kraft dafür liefern. Allmählich verwandelt sich das Geräusch. Wird klarer, deutlicher… ein Satz tänzelt zwischen Reihen weißer Zähne herum. Wird allmählich immer sichtbarer, wie ein Kuss, der leise zwischen den vollen, roten Lippen einer stolzen Schönheit entstanden ist:

„Vergiss mich bitte nicht.“

Sie nimmt sich einen weichen, schwarzen Bleistift und feines, glattes Papier. Spürt den Stift in ihrer Hand und lässt in einem ersten Strich das Graphit über das Papier gleiten.  Wie eine bezaubernde Eiskunstläuferin gleitet sie über die schimmernde Oberfläche. Lässt sich ein auf den Tanz über das Eis und fühlt den Kuss der Schneekönigin auf ihrer Wange. Hört ihn zerspringen, den Spiegel der Schneekönigin. Weit entfernt und doch dringt das Geräusch, silberhell an ihre Ohren. Die Erinnerungen kehren zurück. Dreht sich, während sie zu schreiben beginnt, mit einer eleganten Bewegung zu einer immer schneller sich drehenden Pirouette. Spürt einen leichten Schmerz in ihren Augen, Ohren und in ihrem Herzen. Streicht die Falten ihres Gewandes glatt, das noch immer die Spuren ihres Spiels mit dem Feuer  trägt. Sie reibt sich den Schlaf aus ihren blauen Augen, die manchmal auch grün sind und an besonderen Tagen scheint es, als sei das eine Auge blau und das andere Auge grün. Blinzelnd betrachtet sie die Welt, die sie umgibt …

März 24, 2023 — Kerstin Köglmeier