Welch eine Erkenntnis, dass Tische umkippen, wenn ich daran rüttele und zerre. Torben Hendrik oder war der Name des Dreikäsehochs ewig gestrig Kevin oder doch eher ein angepasster Korbinian? Mein Glück, dass die Erzeugerin des kleinen Zweibeiners mir die Kenntnis dieses Wissen erspart hat. Die eisverschmierten Fingerabdrücke auf der Schaufensterscheibe bleiben mir jedoch nicht erspart. Egal. Ich wollte ja ohnehin dieser Tage von außen putzen.

Wir wollen ihn Torben-Hendrik nennen. Denn dass es sich um ein männliches Exemplar handelt, steht zweifelsfrei außer Frage. Zumindest für mich.

Er wurde in Tarnfarbe passend für den Besuch auf dem grünen Markt gekleidet. Oliv ist da schlechthin die Farbe der ersten Wahl und lässt eher fahle Gesichtszüge noch etwas blasser erscheinen. Man will ja schließlich nicht auffallen und diesen Charakterzug auch möglichst frühzeitig an die eigenen Nachkommen weitergeben, so dies nicht bereits mit den Genen oder der verabreichten Muttermilch geschehen ist. Seine Mütze hat Ohren und passt ebenfalls ganz entzückend zum Gesamt-Ensemble. Man geht Ton in Ton.

Noch immer steht der Blumentopf mitsamt der Blume auf dem grünen Tisch. Der Tisch steht einladend vor der Tür. Ich empfinde diesen Tisch als besonders gelungene und einladende Geste. Aber meine Meinung ist nicht direkt die Meinung, die die vorherrschende Stimmungslage des Ortes widerspiegelt.

Mittlerweile kniet auch die ebenfalls bemützte Mutter vor der Scheibe und dekoriert zusätzlich mit eigenen Fingertapsen. Muss ich das eigentlich mögen. Eine weitere Dame gesellt sich zu der knieenden Gruppe. Man erhebt sich. Die dazugekommene Dame kniet augenscheinlich nicht so gern. Reckt jedoch das zweifache Kinn interessiert dem Schriftzug über der Tür entgegen. Stirnrunzeln begegnet den hochschnellenden Augenbrauen. Diverse Fragezeichen bleiben in der sonnigen und sich abkühlenden Novemberluft noch eine Weile stehen, bevor sie mangels gefundener Antworten zu Boden plumpsen.

Während ich von innen nach außen schaue, schleicht sich eine Frage in den Raum. Sollte ich die Farbe des Tischchens überdenken? Grün beißt sich eindeutig mit Gelb und Blau. Ich sehe mich in einem Konflikt. Aber natürlich gibt es keine Argumente gegen die Farbgestaltung der ortsüblichen Mülltonnen, die überdimensioniert die Hinterlassenschaften der Nachbarschaft aufnehmen und nunmehr seit zwei Tagen ihr Dasein vor den Auslagen des Geschäfts fristen. Etwas verlegen schmiegen sich die beiden Container an den Hydranten. Marktbesucher nutzen deren Deckel als Möglichkeit, mit Kaffee gefüllte Pappbecher abzustellen, um die eigenen Hände für eine Frühstückszigarette zu benützen.

Ich finde ja, dass erwachsene Menschen durchaus ihrer Sehnsucht nach Mutters Brust und der längst vergangenen Suche nach Geborgenheit Ausdruck im Saugen an einem Glimmstängel verleihen müssen. Schließlich leben wir in einer Zeit, in der eigene Probleme automatisch zur Chefsache und Gegenstand des gesellschaftlichen Interesses geworden sind.

Ganz zu schweigen von der öffentlich thematisierten Suche nach der eigenen Identität und bildlichen Umsetzung des eigenen Geschlechts. Zwar habe ich die Sache mit den unterschiedlichen Färbungen von divers noch nicht verstanden, aber das hängt garantiert mit meinem Alter und meinem bereits definierten Geschlecht zusammen. Vorverurteilungen sind in keinem Falle korrekt und sollten kategorisch dem Kant´schen Imperativ gehorchend abgelehnt werden. Die Suche nach der eigenen Identität ist nun auch wirklich kein Zuckerschlecken. Es bedarf größter Mühen und Anstrengungen und muss unbedingt mit der gesamten Weltbevölkerung geteilt werden. Es ist ja schließlich nicht so, dass es den anderen Menschen womöglich ähnlich ginge. Nein, nein!

Das zum Ausdruck gebrachte und klagenreich intonierte eigene Befinden ist die Krönung der Evolution und bedarf unbedingter Beachtung. Denn Erleichterung im Ertragen des eigenen Schicksals, welches selbstverständlich ausschließlich dem Zufallsprinzip unterliegt, ist nur durch Fremdbeglückung zu erlangen, wobei Eigenverantwortung als eher hinderlich betrachtet werden muss.

Eilends vergehen die Stunden wie im Fluge und die ersten temperierten Verkaufswagen sind bereits auf dem Wege zurück in die heimatliche Garage, während Damen, die soeben noch gemütlich auf ein Schwätzchen in der Sonne beisammen gesessen haben, aufspringen und das Rascheln der abzubauenden Marktstände zum Anlass nehmen, die heimische Küche aufzusuchen. Einkäufe müssen schleunigst aus Körbchen in Vorratsregale und Kühlschränke verräumt werden. Mahlzeiten wollen vorbereitet und pünktlich auf den Tisch gebracht werden. Ordnung muss sein. Ist schließlich das halbe Leben. Und für die andere Hälfte des Lebens bleibt keine Zeit, sich zu interessieren. Haben wir schließlich noch nie so gemacht und wollen damit auch gar nicht anfangen. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder auch noch machen wollte, was er könnte. Nein, nein!

Kaum, dass der Marktplatz von Verkaufsständen geräumt ist, beginnt bereits die unumgängliche Säuberungswelle der städtischen Mitarbeiter, die akribisch in ihren orangeroten Wägelchen auf- und abfahren. Kein Staubkorn darf ihrer Reinigung entgehen. Blitzblank muss gewienert werden. Eine blütenreine, weiße Weste hat noch jedem den gewünschten Wohlstand gebracht, selbst wenn darunter der eine oder andere dunkle Fleck versteckt werden musste. Aber es hat schließlich jeder seine Leiche im Keller und unter welchem Dach wohnt denn kein Ach?! Es bleibt nicht viel Zeit. Zeit ist Geld! Kostbar obendrein. Und Parkraum will ordentlich bewirtschaftet werden. Die bediensteten Damen mit Bleistift und Strafzettelblock im Schulterhalfter stehen bereits wieder in den ordentlich gebügelten dunkelblauen Startlöchern. Bundfalten stehen ihnen zu Ehren Spalier in der Deckung einer Hauswand.

November 03, 2022 — Kerstin Köglmeier